Interview veröffentlicht in der Zeitschrift "Tópicos" mit Alexander Gehrmann - Interviewpartner: Paula
Katzenstein und Ursula Gostal
Herausgeber: Deutsch-Brasilianische Gesellschaft e.V., Ausgabe 02/2014
August 2014
Online verfügbar unter folgendem Link:
http://www.topicos.de/fileadmin/pdf/2014/2/214_24_katzenstein-gostal_d.pdf
Online verfügbar unter folgendem Link:
http://www.topicos.de/fileadmin/pdf/2014/2/214_24_katzenstein-gostal_d.pdf
1.
Welche wirtschaftlichen Schwerpunkte/Faktoren werden Brasilien
Ihrer Meinung nach zur Weltwirtschaftsmacht
führen?
Mit
dem Wort „Weltmacht“ sollte man grundsätzlich vorsichtig sein.
Eine Regionalmacht in Süd bzw. Lateinamerika ist Brasilien bereits.
Außerdem ist Brasilien in der Gruppe der zehn größten
Volkswirtschaften vertreten und belegt aktuell Rang 7 hinter
Großbritannien und vor Italien, bezogen auf das BIP. Brasilien
besitzt das Potential weiter nach oben zu klettern. Zu den
wichtigsten strategischen Branchen Brasiliens zählen Eisenerz und
Erdöl (Hard Commodities) sowie Agrarrohstoffe (Soft Commodities) im
Bereich des primären Sektors. Im Industriesektor gehören die
Stahlindustrie, die Lebensmittelindustrie und die Chemieindustrie zu
den kompetitivsten Branchen. Die brasilianische Automobilindustrie
produziert primär für den Heimatmarkt sowie für andere
südamerikanische Staaten. Im Dienstleistungssektor sind die
Bankenbranche, der Einzelhandel, Telekommunikation und der
Mediensektor die stärksten Segmente. Brasilien ist bereits eine
Wirtschaftsmacht, allerdings ist es zugleich ein Schwellenland.
2. Verfügt Brasilien derzeit über ausreichend fachliche Ressourcen und Know-how, um
diesen Riesenschritt zu bewältigen?
Das
Bildungssystem wird zunehmend zu einem Schlüsselfaktor für
Brasiliens zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Brasilien ist
eine Dienstleistungsgesellschaft – mit andern Worten: 67% des BIP
werden durch Dienstleistungen erzeugt. Der Dienstleistungssektor
(insbesondere das Segment der gehobenen Dienstleistungen) verlangt
nach gut ausgebildeten Fachkräften. Das Angebot an Hochschulen hat
sich zwischen den Jahren 1999 und 2009 massiv ausgeweitet.
Mittlerweile gibt es in Brasilien 6,5 Mio. Studierende. Ein Großteil
der Studierenden ist an einer der vielen privaten Hochschulen
eingeschrieben. Zum Stichwort Know-How: Die Zahl der aus Brasilien
kommenden Patente verharrt weiterhin auf einem niedrigen Niveau. Im
Jahr 2010 wurden in Brasilien 488 Patente angemeldet. Im Gegensatz
anderen Schwellenländern wie China (12.296 Patente), Indien (1.286
Patente) oder auch Russland (964 Patente), bewegt sich Brasilien
damit im unteren Bereich. Auf jeden Fall muss Brasilien weiter in
Bildung investieren, um das insbesondere die Bildungsqualität bei
Natur- und Ingenieurswissenschaften sowie im Bereich Fremdsprachen
weiter zu erhöhen.
3. Kann Brasilien bei dieser Entwicklung auf die Unterstützung von internationalen Partnerländern zählen? - Welche würden Sie nennen?”
Brasilien
unterhält rege Handelsbeziehungen mit vielen großen
Volkswirtschaften wie USA, China und Deutschland sowie mit anderen
Staaten Lateinamerikas (v.a. Argentinien, Chile und Mexiko).
Zusammengenommen ist die EU der größte Handelspartner Brasiliens.
Länder mit einem großen Handelsvolumen geraten im
globalökonomischen Gefüge automatisch in eine Aufwärtsspirale. Die
großen Wirtschaftsmächte der Erde weisen auch die größten
Handelsvolumina auf. Überdies gilt Brasilien geopolitisch gesehen
als „sympathische Nation“, die für Multilateralismus eintritt
und keine globalen Machtansprüche hegt – ob militärisch oder
ökonomisch. Darüber hinaus agiert Brasilien innerhalb mehrerer
internationaler Organisationen, wie dem Mercosur, der OAS
(Organisation Amerikanischer Staaten) sowie im BRICS-Staatenbund
zusammen mit Russland, Indien, China und Südafrika.
4.
Was war Ihre Motivation das Buch "Brasilien - Die Samba-Nation
auf dem Weg zur Wirtschaftsmacht" zu schreiben?
Mein
Ziel war und ist es, dem deutschsprachigen Leser einen lebensnahen
Überblick über Brasilien zu verschaffen. Ich wundere mich immer
wieder, was für ein oberflächliches Bild viele Europäer von
Brasilien haben, welches oft von Klischees geprägt ist. Brasilien
ist immerhin die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt und zudem für
Westler eine sehr „zugängliche“ Kultur aufgrund vieler
kultureller Parallelen. Ich sehe mich auch als Kommunikator zwischen
Deutschland und Brasilien. Detail- und Faktenreichtum in Verbindung
mit einer leserfreundlichen Schreibweise haben bei mir oberste
Priorität.
5.
Wie schätzen Sie die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung
Brasiliens ein?
Die
Jahre 2004 bis 2010 können als die brasilianischen Boomjahre in der
vergangenen Dekade angesehen werden, in denen Brasilien im Schnitt
mit soliden 4,5 % pro Jahr gewachsen ist. In den Jahren 2011 und 2012
flachte das Wachstum zunächst ab, mittlerweile hat sich das BIP
Wachstum aber wieder erholt und beläuft sich für 2013 auf 2,3 %.
Derzeit liegt die Inflation mit 6,2 % auf einem relativ hohen Niveau.
Mittlerweile weist Brasilien mit 11 % die höchsten Leitzinsen aller
OECD-Staaten auf. Mit den hohen Zinsen will die brasilianische
Zentralbank die Inflation eindämmen. Abgesehen von leichten
Wechselkursschwankungen hält sich der brasilianische Real derzeit
recht stabil. Oberste Priorität hat für die brasilianische
Regierung die Preiswertstabilität. Brasilien vollführt aktuell
einen Drahtseilakt zwischen Inflationseindämmung und staatlich
forciertem Wirtschaftswachstum. Man sollte sich von der aktuellen
„Wirtschaftsflaute“ auch nicht irritieren lassen. Nach 2,3 %
Wachstum kann man in Europa derzeit lange suchen. Im Jahr 2013
flossen 184,9 Mrd. US$ an ausländischen Direktinvestitionen nach
Südamerika. 35 % davon – also 65 Mrd. US$ – entfielen auf
Brasilien. Laut der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES sind bis
2017 1,4 Billionen Euro an Investitionen geplant, die primär in die
Bereiche Agrarwirtschaft, Industrie, Wohnungsbau und Infrastruktur
fließen sollen. Zudem verfügt Brasilien mit 373 Mrd. US$ über ein
gutes Polster an Devisenreserven.
6.
Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Fußball WM auf Brasiliens
Wirtschaft auswirken?
Ein
Megaevent wie die aktuell stattfindende Fußball WM oder auch
Olympische Spiele – wie 2016 in Rio de Janeiro – können eine
positive Impulswirkung für Investitionen haben. Dies gilt vor allem
für die Bereiche des Gastgewerbes und des Einzelhandels, aber auch
für den Infrastrukturbereich. Zudem kann dies einen Einfluss auf die
Außenwirkung bzw. auf das Image eines Landes haben. Eine Garantie
für nachhaltiges Wachstum ist ein Großevent jedoch nicht – wie
man am Beispielen Griechenland (Austragungsort der Olympischen Spiele
2004) oder Südafrika (Austragungsort der Fußball WM 2010) sieht.
Ein Land kann sich nicht allein auf ein Großevent als Wachstumsmotor
verlassen.
7.
Was zeichnet Brasilien insbesondere aus (im Gegensatz zu anderen
Nationen bzw. zu anderen Schwellenländern)?
Große
Landressourcen, Naturreichtum, eine offene und willkommen heißende
Mentalität, eine junge und dynamische Bevölkerung, eine niedrige
Bevölkerungsdichte, eine diversifizierte Branchenstruktur,
politische Stabilität sowie demokratische Strukturen. Darüber
hinaus befindet sich Brasilien mit seiner Lage in Südamerika in
einem geopolitisch ruhigen Terrain. Hier existieren keine
geopolitischen Bruchlinien im ethnisch- kulturell bzw. im religiösen
Sinne im Gegensatz zu Russland, China, der Grenzregion USA-Mexiko,
dem Pazifikbecken sowie in der Peripherie der islamischen Welt.
Geopolitisch besteht rund um Brasilien kein Konfliktpotential.
Finanzressourcen, die andere Länder ins Militär stecken, kann
Brasilien anderswertig auf eine konstruktivere Art und Weise
einsetzen. Das ist eine Chance.
8.
Wie beurteilen Sie die deutsch-brasilianischen Beziehungen?
Die
deutsch-brasilianischen Beziehungen sind sehr gut. Sowohl im
wirtschaftlichen als auch im kulturellen Bereich gibt es viele
Anknüpfungspunkte zwischen beiden Ländern. Deutschland gehört zu
Brasiliens größten Handelspartnern. Die Achse Berlin – Brasília
scheint in der jüngsten Zeit wieder an Bedeutung gewonnen zu haben.
Deutschland hat sich in den vergangenen 15 Jahren wirtschaftlich sehr
stark auf China eingeschossen und Brasilien dabei etwas außer Acht
gelassen. Dabei gibt es sehr viele wirtschaftliche Verflechtungen
zwischen Deutschland und Brasilien. São Paulo gilt als größter
„deutscher“ Industriestandort außerhalb Deutschlands, da im
Großraum von São Paulo knapp 1.000 deutsche Unternehmen angesiedelt
sind. Die deutschen Unternehmen Siemens, Bayer, BASF und die Deutsche
Bank sind seit mehr als 100 Jahren in Brasilien vertreten. Außerdem
gibt es viel Sympathie zwischen beiden Völkern. Sogar
alteingesessene Klischees vom „typischen Brasilianer“ oder vom
„typischen Deutschen“ scheinen sich peu à peu aufzulösen.
9.
Welches sind die Chancen und welches sind die Risiken für
Brasiliens Volkswirtschaft?
Zu
den Chancen zähle ich: eine günstige Demographie, die Kreativität
der Brasilianer, Unternehmergeist und Risikobereitschaft in der
Bevölkerung, eine vorteilhafte Branchendiversifizierung, stabile
politische Rahmenbedingungen und das Potential sich als „Agrarmacht“
im weltwirtschaftlichen Gefüge zu positionieren. Als Hauptrisiken
sehe ich: Eine zunehmende private Verschuldung (Konsumentenkredite),
erhöhte Inflation, staatliche Eingriffe ins Wirtschaftsgeschehen,
ein schleppender Ausbau der Infrastruktur, anhaltende
Bildungsdefizite sowie der brasilianische „Bürokratie-Dschungel“.
10.
Welche Wirtschaftsbranchen Brasiliens haben Ihrer Meinung nach
Wachstumspotenzial?
Die
Stahlindustrie, der Tourismus- sowie der Hotelsektor, Wohnimmobilien
für die unteren und mittleren Einkommenssegmente, Infrastruktur, der
Bildungssektor und natürlich der Agrarbereich. Auch im
Automobilbereich gibt es vor allem hinsichtlich des Absatzmarktes
noch Spielraum nach oben.
11.
Wie würden Sie Ihre allgemeinen Erfahrungen in Brasilien und mit
Brasilianern zusammenfassen?
Brasilien
ist ein hochinteressantes Land. Seine Größe, die Vielfalt,
Naturreichtum, die offene Mentalität und seine dynamische und
neugierige Bevölkerung erzeugen einen einzigartigen Kultur-Mix. Ich
habe mit Brasilien und Brasilianern überwiegend positive Erfahrungen
gemacht. In Brasilien habe ich mich immer sehr willkommen gefühlt.
Natürlich gibt es auch die klassischen Schattenseiten, aber unterm
Strich überwiegt für mich das Positive.
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