Donnerstag, 9. Oktober 2014



Interview veröffentlicht in der Zeitschrift "Tópicos" mit Alexander Gehrmann - Interviewpartner: Paula Katzenstein und Ursula Gostal

Herausgeber: Deutsch-Brasilianische Gesellschaft e.V., Ausgabe 02/2014 
 
August 2014
 

Online verfügbar unter folgendem Link: 

http://www.topicos.de/fileadmin/pdf/2014/2/214_24_katzenstein-gostal_d.pdf


1.  Welche wirtschaftlichen Schwerpunkte/Faktoren werden Brasilien Ihrer Meinung nach zur Weltwirtschaftsmacht führen?

Mit dem Wort „Weltmacht“ sollte man grundsätzlich vorsichtig sein. Eine Regionalmacht in Süd bzw. Lateinamerika ist Brasilien bereits. Außerdem ist Brasilien in der Gruppe der zehn größten Volkswirtschaften vertreten und belegt aktuell Rang 7 hinter Großbritannien und vor Italien, bezogen auf das BIP. Brasilien besitzt das Potential weiter nach oben zu klettern. Zu den wichtigsten strategischen Branchen Brasiliens zählen Eisenerz und Erdöl (Hard Commodities) sowie Agrarrohstoffe (Soft Commodities) im Bereich des primären Sektors. Im Industriesektor gehören die Stahlindustrie, die Lebensmittelindustrie und die Chemieindustrie zu den kompetitivsten Branchen. Die brasilianische Automobilindustrie produziert primär für den Heimatmarkt sowie für andere südamerikanische Staaten. Im Dienstleistungssektor sind die Bankenbranche, der Einzelhandel, Telekommunikation und der Mediensektor die stärksten Segmente. Brasilien ist bereits eine Wirtschaftsmacht, allerdings ist es zugleich ein Schwellenland.



2. Verfügt Brasilien derzeit  über ausreichend fachliche Ressourcen und Know-how, um
    diesen Riesenschritt zu bewältigen?  

Das Bildungssystem wird zunehmend zu einem Schlüsselfaktor für Brasiliens zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Brasilien ist eine Dienstleistungsgesellschaft – mit andern Worten: 67% des BIP werden durch Dienstleistungen erzeugt. Der Dienstleistungssektor (insbesondere das Segment der gehobenen Dienstleistungen) verlangt nach gut ausgebildeten Fachkräften. Das Angebot an Hochschulen hat sich zwischen den Jahren 1999 und 2009 massiv ausgeweitet. Mittlerweile gibt es in Brasilien 6,5 Mio. Studierende. Ein Großteil der Studierenden ist an einer der vielen privaten Hochschulen eingeschrieben. Zum Stichwort Know-How: Die Zahl der aus Brasilien kommenden Patente verharrt weiterhin auf einem niedrigen Niveau. Im Jahr 2010 wurden in Brasilien 488 Patente angemeldet. Im Gegensatz anderen Schwellenländern wie China (12.296 Patente), Indien (1.286 Patente) oder auch Russland (964 Patente), bewegt sich Brasilien damit im unteren Bereich. Auf jeden Fall muss Brasilien weiter in Bildung investieren, um das insbesondere die Bildungsqualität bei Natur- und Ingenieurswissenschaften sowie im Bereich Fremdsprachen weiter zu erhöhen.



3. Kann Brasilien  bei dieser Entwicklung auf die Unterstützung von internationalen     Partnerländern zählen? - Welche würden Sie nennen?”

Brasilien unterhält rege Handelsbeziehungen mit vielen großen Volkswirtschaften wie USA, China und Deutschland sowie mit anderen Staaten Lateinamerikas (v.a. Argentinien, Chile und Mexiko). Zusammengenommen ist die EU der größte Handelspartner Brasiliens. Länder mit einem großen Handelsvolumen geraten im globalökonomischen Gefüge automatisch in eine Aufwärtsspirale. Die großen Wirtschaftsmächte der Erde weisen auch die größten Handelsvolumina auf. Überdies gilt Brasilien geopolitisch gesehen als „sympathische Nation“, die für Multilateralismus eintritt und keine globalen Machtansprüche hegt – ob militärisch oder ökonomisch. Darüber hinaus agiert Brasilien innerhalb mehrerer internationaler Organisationen, wie dem Mercosur, der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) sowie im BRICS-Staatenbund zusammen mit Russland, Indien, China und Südafrika.

4. Was war Ihre Motivation das Buch "Brasilien - Die Samba-Nation auf dem Weg zur Wirtschaftsmacht" zu schreiben?

Mein Ziel war und ist es, dem deutschsprachigen Leser einen lebensnahen Überblick über Brasilien zu verschaffen. Ich wundere mich immer wieder, was für ein oberflächliches Bild viele Europäer von Brasilien haben, welches oft von Klischees geprägt ist. Brasilien ist immerhin die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt und zudem für Westler eine sehr „zugängliche“ Kultur aufgrund vieler kultureller Parallelen. Ich sehe mich auch als Kommunikator zwischen Deutschland und Brasilien. Detail- und Faktenreichtum in Verbindung mit einer leserfreundlichen Schreibweise haben bei mir oberste Priorität.



5. Wie schätzen Sie die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens ein?

Die Jahre 2004 bis 2010 können als die brasilianischen Boomjahre in der vergangenen Dekade angesehen werden, in denen Brasilien im Schnitt mit soliden 4,5 % pro Jahr gewachsen ist. In den Jahren 2011 und 2012 flachte das Wachstum zunächst ab, mittlerweile hat sich das BIP Wachstum aber wieder erholt und beläuft sich für 2013 auf 2,3 %. Derzeit liegt die Inflation mit 6,2 % auf einem relativ hohen Niveau. Mittlerweile weist Brasilien mit 11 % die höchsten Leitzinsen aller OECD-Staaten auf. Mit den hohen Zinsen will die brasilianische Zentralbank die Inflation eindämmen. Abgesehen von leichten Wechselkursschwankungen hält sich der brasilianische Real derzeit recht stabil. Oberste Priorität hat für die brasilianische Regierung die Preiswertstabilität. Brasilien vollführt aktuell einen Drahtseilakt zwischen Inflationseindämmung und staatlich forciertem Wirtschaftswachstum. Man sollte sich von der aktuellen „Wirtschaftsflaute“ auch nicht irritieren lassen. Nach 2,3 % Wachstum kann man in Europa derzeit lange suchen. Im Jahr 2013 flossen 184,9 Mrd. US$ an ausländischen Direktinvestitionen nach Südamerika. 35 % davon – also 65 Mrd. US$ – entfielen auf Brasilien. Laut der brasilianischen Entwicklungsbank BNDES sind bis 2017 1,4 Billionen Euro an Investitionen geplant, die primär in die Bereiche Agrarwirtschaft, Industrie, Wohnungsbau und Infrastruktur fließen sollen. Zudem verfügt Brasilien mit 373 Mrd. US$ über ein gutes Polster an Devisenreserven.



6. Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Fußball WM auf Brasiliens Wirtschaft auswirken?

Ein Megaevent wie die aktuell stattfindende Fußball WM oder auch Olympische Spiele – wie 2016 in Rio de Janeiro – können eine positive Impulswirkung für Investitionen haben. Dies gilt vor allem für die Bereiche des Gastgewerbes und des Einzelhandels, aber auch für den Infrastrukturbereich. Zudem kann dies einen Einfluss auf die Außenwirkung bzw. auf das Image eines Landes haben. Eine Garantie für nachhaltiges Wachstum ist ein Großevent jedoch nicht – wie man am Beispielen Griechenland (Austragungsort der Olympischen Spiele 2004) oder Südafrika (Austragungsort der Fußball WM 2010) sieht. Ein Land kann sich nicht allein auf ein Großevent als Wachstumsmotor verlassen.



7. Was zeichnet Brasilien insbesondere aus (im Gegensatz zu anderen Nationen bzw. zu anderen Schwellenländern)?

Große Landressourcen, Naturreichtum, eine offene und willkommen heißende Mentalität, eine junge und dynamische Bevölkerung, eine niedrige Bevölkerungsdichte, eine diversifizierte Branchenstruktur, politische Stabilität sowie demokratische Strukturen. Darüber hinaus befindet sich Brasilien mit seiner Lage in Südamerika in einem geopolitisch ruhigen Terrain. Hier existieren keine geopolitischen Bruchlinien im ethnisch- kulturell bzw. im religiösen Sinne im Gegensatz zu Russland, China, der Grenzregion USA-Mexiko, dem Pazifikbecken sowie in der Peripherie der islamischen Welt. Geopolitisch besteht rund um Brasilien kein Konfliktpotential. Finanzressourcen, die andere Länder ins Militär stecken, kann Brasilien anderswertig auf eine konstruktivere Art und Weise einsetzen. Das ist eine Chance.



8. Wie beurteilen Sie die deutsch-brasilianischen Beziehungen?

Die deutsch-brasilianischen Beziehungen sind sehr gut. Sowohl im wirtschaftlichen als auch im kulturellen Bereich gibt es viele Anknüpfungspunkte zwischen beiden Ländern. Deutschland gehört zu Brasiliens größten Handelspartnern. Die Achse Berlin – Brasília scheint in der jüngsten Zeit wieder an Bedeutung gewonnen zu haben. Deutschland hat sich in den vergangenen 15 Jahren wirtschaftlich sehr stark auf China eingeschossen und Brasilien dabei etwas außer Acht gelassen. Dabei gibt es sehr viele wirtschaftliche Verflechtungen zwischen Deutschland und Brasilien. São Paulo gilt als größter „deutscher“ Industriestandort außerhalb Deutschlands, da im Großraum von São Paulo knapp 1.000 deutsche Unternehmen angesiedelt sind. Die deutschen Unternehmen Siemens, Bayer, BASF und die Deutsche Bank sind seit mehr als 100 Jahren in Brasilien vertreten. Außerdem gibt es viel Sympathie zwischen beiden Völkern. Sogar alteingesessene Klischees vom „typischen Brasilianer“ oder vom „typischen Deutschen“ scheinen sich peu à peu aufzulösen.



9. Welches sind die Chancen und welches sind die Risiken für Brasiliens Volkswirtschaft?

Zu den Chancen zähle ich: eine günstige Demographie, die Kreativität der Brasilianer, Unternehmergeist und Risikobereitschaft in der Bevölkerung, eine vorteilhafte Branchendiversifizierung, stabile politische Rahmenbedingungen und das Potential sich als „Agrarmacht“ im weltwirtschaftlichen Gefüge zu positionieren. Als Hauptrisiken sehe ich: Eine zunehmende private Verschuldung (Konsumentenkredite), erhöhte Inflation, staatliche Eingriffe ins Wirtschaftsgeschehen, ein schleppender Ausbau der Infrastruktur, anhaltende Bildungsdefizite sowie der brasilianische „Bürokratie-Dschungel“.



10. Welche Wirtschaftsbranchen Brasiliens haben Ihrer Meinung nach Wachstumspotenzial?

Die Stahlindustrie, der Tourismus- sowie der Hotelsektor, Wohnimmobilien für die unteren und mittleren Einkommenssegmente, Infrastruktur, der Bildungssektor und natürlich der Agrarbereich. Auch im Automobilbereich gibt es vor allem hinsichtlich des Absatzmarktes noch Spielraum nach oben.



11. Wie würden Sie Ihre allgemeinen Erfahrungen in Brasilien und mit Brasilianern zusammenfassen?

Brasilien ist ein hochinteressantes Land. Seine Größe, die Vielfalt, Naturreichtum, die offene Mentalität und seine dynamische und neugierige Bevölkerung erzeugen einen einzigartigen Kultur-Mix. Ich habe mit Brasilien und Brasilianern überwiegend positive Erfahrungen gemacht. In Brasilien habe ich mich immer sehr willkommen gefühlt. Natürlich gibt es auch die klassischen Schattenseiten, aber unterm Strich überwiegt für mich das Positive.




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